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John Argyris - Der ökumenische Gelehrte der griechischen Diaspora

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2017-01-28 2017-01-28 28.01.2017

Das griechische Multitalent in Forschung, Konstruktion, Lehre, Vision, multilingualer Rhetorik, Mystik und Zivilcourage war gewiß eine singuläre Erscheinung des zwanzigsten Jahrhunderts. Am 2.4. 2004 verstarb in hohem Alter in Stuttgart John Argyris (Ιωάννης Αργύρης, 19. August 1913 in Volos - 2. April 2004 in Stuttgart). Der auf dem ganzen Globus bekannte Wissenschaftler war für seinen außerordentlichen wissenschaftlichen und technologischen Beitrag geschätzt, geehrt, ja sogar unter den Kennern der Ereignisse des zweiten Weltkrieges zu einer Legende geworden.

Der Mythos von Prof. Argyris beginnt gerade in dem Topos der Argonauten, dem einstmaligen Iolkos und heutigen Volos. Schon in seinem genealogischen Ursprung erfüllt sich die Disziplin des Mysteriums mit seiner kosmopolitischen Geltung, Diachronizität, aber auch olympischen Intellektualität.
Mütterlicherseits war er Neffe des berühmten Mathematikers Constatin Caratheodoris, dem Begründer der Funktionsanalyse. Märtyrer und Ausrufer der griechischen Aufklärung und Revolution, wie der Rhigas Feraios, zählte er zu seinen Ahnen. Bekanntlich wurde Rhigas Feraios unter Anweisung von Kanzler Metternich den Restaurationsbestrebungen und dem osmanischen Reich geopfert.
Väterlicherseits wurzelt die Familie Argyris im nordipirotischen Städtchen Argyrokastro (Argyrisburg). Eine Gegend, die von Homer als Mutter Griechenlands besungen wird und von Aristoteles als die erste Wiege der Zivilisation bezeichnet wird.
Man versteht den bedeutenden Beitrag von Argyris im Bereich der Chaostheorie, wenn man sich der Nähe der Chaonen - der Einwohner dieser Gegend – bewußt wird.
Der junge Argyris verbrachte die ersten Lebensjahre in Volos und Thessalien, besuchte das humanistische Gymnasium in Athen, absolvierte die technische Elitehochschule (EMP) in Athen und setzte seine Studien in München fort.
Seine Mutter war jedoch entschieden dagegen, daß er seine Studien in Deutschland abrundete. Hier offenbarte sich der mütterliche Instinkt. Ihr Bruder, Constatin Caratheodoris, war in München im Zenit seiner Karriere und der Name Caratheodoris hatte die beste Reputation, auch in politischen und diplomatischen Kreisen.
Der geistreiche Kosmopolit, multilinguale junge Wissenschaftler mit exeptionell hervorragenden Leistungen J. A. hatte die besten Referenzen für die Münchner und Berliner Society und Wissenschaft.
Der konservative junge Revolutionär konnte sich aber mit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht abfinden.
Nachdem durchgesickert war, daß er jüdischen Familien nach Dänemark zur Flucht verholfen hatte, wurde er interniert. Man sagt, daß er nie den Nazigruß erwidert oder selber salutiert hat. Erschwerend kam hinzu, daß er Geheimnisträger war wegen seiner Beteiligung an schwierigen und wichtigen Konstruktionen.
Vom Konzentrationslager flüchtete er während eines nächtlichen alliierten Luftangriffs auf Berlin. Zu diesem Zeitpunkt, mitten im "Zweiten europäischen Bürgerkrieg" spielten sich dramatische und schicksalshafte Szenen im Umfeld von Argyris ab. Familienangehörige dienten und fielen als Offiziere der alliierten Luftwaffe und Marine und ihm nahestehende Personen wurden von den Nazis in Griechenland standrechtlich exekutiert.
Hier ist noch erhebliche historiographische Arbeit zu leisten.
Dem jungen untergetauchten Wissenschaftler verhalf Admiral von Canaris zur Flucht. Auf seine Anweisung händigte ihm Leutnant von Dohnanyi ein Visum für die Schweiz aus und verhalf ihm zur Flucht. Sechs Monate später wurden Canaris und Dohnanyi exekutiert.
Die Schweizer Behörden erwogen zunächst, Argyris nach Deutschland auszuliefern, nahmen aber aufgrund des von Canaris ausgestellten Visums und der von Argyris existierenden Akten davon Abstand. Argyris durfte in der Technischen Universität Zürich weiter studieren und begeisterte seine Lehrer mit seinen Leistungen. Nach diplomatischer Intervention durfte er über Spanien und Portugal nach London ausreisen.

Die englische Abwehr hatte verständlicherweise Schwierigkeiten, die unglaubliche Vorgeschichte von Argyris zu glauben. Nach etlichen Gegenüberstellungen konnte J. A. die englischen Behörden überzeugen und er wurde Lord Beaverbrooks unterstellt. Dieser war der leitende Berater für die Herstellung von Flugzeugen in GB. England erkannte rasch die Qualitäten des jungen Wissenschaftlers und setzte ihn entsprechend ein. Sowohl der zeitliche Ausgang des "Zweiten Europäischen Bürgerkrieges" als auch menschliche und materielle Opfer wurden durch die konstruktiven Beiträge von J. A. in entschiedenster Weise verkürzt und minimiert. Zehntausende Menschenleben wurden gerettet durch die Eliminierung von achtzig Prozent der Konstruktionsfehler in der Luftfahrt und andere schwierige und komplexe Konstruktionen. Der materielle Gewinn für Europa und die Welt ist unübersehbar. Die mathematische Methode der Finite Elemente war durch J. A. geboren worden (1944).
Man sagt, die FEM wird im 21. Jahrhundert gleichwertig neben dem Newtonschen Calculus stehen .
Die Würdigung dieser Methode ist in naturwissenschaftlich-technischen Kreisen von infinitem Wert.
Erlauben Sie mir hier, stellvertretend für die unzähligen Anerkennungen die Ehrung der New Yorker Akademie der Wissenschaften anläßlich der Verleihung der höchsten astronautischen Anerkennung, der Laskowiz-Goldmedaille, wiederzugeben: "mit der Entdeckung der Finite Elemente hat J.A. Wie kein anderer das Feld der angewandten Mechanik bereichert".
Karman charakterisiert die Methode der Finite Elemente als die größte Entdeckung des zwanzigsten Jahrhunderts und die revolutionärste Philosophie, um physikalisch technischen Problemen zu begegnen.
Seine Freude an unlösbaren Problemen und seine Suche nach applikablen Lösungen war legendär.
Einfache mathematische Beschreibungen, phantasievolle Konzeptionen und direkte Anwendung des Erdachten zeichneten sein Werk aus. Seine analytische Theorie findet nach Professor Karman ihre Apotheose in den astronautischen Konstruktionen. Die schon in früher Jugend vorhandene Abneigung gegenüber der kartesischen Geometrie erweist sich im Zweiten Weltkrieg als genial. Seine Geduld und Beharrlichkeit zu seiner Theorie beweisen seine hochdiffizilen Konstruktionen. Die neue Philosophie wurde realisiert mit dem Erscheinen der ersten primitiven Rechenmaschinen. Trotz eingeschränkter Rechenkapazität erreichte J. A. mit seiner Methode eine Aproximation der experimentellen Genauigkeit von 95 Prozent. Den ökonomischen Nutzen dieser Entdeckung brauche ich nicht zu kommentieren. Trotz erbittertem Kampf vieler etablierter Mathematiker beharrte er auf seiner Position. Das ist sein Markenzeichen. Er empfahl den jungen Wissenschaftlern solide mathematische Kenntnisse, praktisches Gespür, Vertrautheit mit den Naturgesetzen in Vereinigung mit Phantasie, Geduld und Ausdauer.
Die heutige Bildungs- und ökonomische Politik sollte dies für die Zukunft nicht außer Acht lassen. Seine Methode ermöglichte unter anderem in den sechziger Jahren die Konzeption und die Konstruktion des Flugzeuges 747, seine Beiträge zum Apollo-Programm mit Mondlandung und Rückführung der Raumsonde auf die Erde sind unbestreitbar. Aber auch bodenständiges, wie das olympische Stadion in München, und Anwendungen in der Medizin tragen die berechenbaren Hinweise seiner Partizipation.

Als Direktor des Instituts für Statik und Dynamik aeronautischer Konstruktionen, des Rechenzentrums, und als Schöpfer des astronautischen flugzeugbautechnischen Campus der Universität Stuttgart bereicherte er die süddeutsche Region mit seinen intellektuellen und technischen Innovationen. Die Schar seiner Schüler und Mitarbeiter bildeten jene verschworene technische Legion, welche neue Perspektiven im technisch-wissenschaftlichen Sektor eröffneten und ökonomische Prosperität für das Land garantierten. Seine unermüdliche Produktivität bleibt seinem Mythos treu. Er beschäftigte sich auch mit dem Ursprung dieser Welt, dem Chaos. Nach der Quanten – und Relativitätstheorie waren seine Beiträge zu der Chaostheorie weltweit bahnbrechend.

1983 erhielt er den Weltpreis der Kulturen und wurde zur Persönlichkeit des Jahres 1984 gewählt.

Blessuren der Vergangenheit versuchte er zu verarbeiten, indem er sein Können in einem Maße dem Land zur Verfügung stellte, welches beinahe seine physische Vernichtung erwirkt hätte. Er sprach nie davon, er gestaltete schöpferisch mit; Versöhnung war für ihn ein dynamischer Akt, er realisierte ihn mit konstruktiver Mitarbeit. In diesem Zusammenhang bedarf es eines weiteren Gesichtspunktes der Vergegenwärtigung und besonderer Erwähnung. J. A. war einer der Ersten, der den supranationalen Charakter der europäischen Idee vorlebte. Standort, wissenschaftliche Sozietäten, nationale Ideologien und Interessen waren für ihn vernachlässigbare Größen. London und Stuttgart waren seine täglichen Arbeitsstätten. Identität begriff er als Schöpfungsbrunnen. Gedanken über glorreiche Vergangenheit mied er bewußt bis ins hohe Alter und sein Blick war stets in die Zukunft gerichtet. Byzanz war für ihn seine konservative kastalische Quelle, aus der er Nahrung für seine Kreativität bezog.

Die europäische Idee war für ihn bereits in den fünfziger Jahren eine Realität. Er lehrte gleichzeitig im Londoner Imperial College und in Stuttgarter Technischen Universität, während er für die NASA die Berechnungen für das Wärmeschutzschild für das Apolloprogramm ausarbeitete und komplizierte Probleme des Daimler-Benz-Konzerns löste.

Seine sprachliche Eloquenz war nicht nur ein Produkt seiner Bildung, vielmehr vermittelte sie eine byzantinische Aura, welche seine Zuhörer begeisterte und jegliche Problematik als lösbar erscheinen ließ.

Trotz seiner Begeisterung für die Wissenschaft bis ins hohe Alter war J. A. ein politischer Mensch. In Briefen an amerikanische Präsidenten und an den Bundeskanzler Kohl machte er seine unbequemen Positionen klar, besonders in der deutschen Außenpolitik und beim Zypernproblem. Sein kosmopolitischer Blick kritisierte die Integrationspolitik Deutschlands mit dem einfachen Argument der Realitätsverweigerung und der Unterbrechung der Aufklärung.

J. A. war sicherlich eine der größten ökumenischen wissenschaftlichen Erscheinungen im konstruktiven Sektor des zwanzigsten Jahrhunderts und mit Sicherheit der Größte der griechischen Diaspora.

In einer Zeit, wo von einem Einzigen so viel richtig gemacht wurde, und von Organisationen und Institutionen immer weniger erwartet wird, ist das Phänomen Argyris bestärkend. Dafür ehren wir ihn, wir ehren seinen griechischen Geist mit den Worten von Goethe: "Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als daß sich Gottnatur ihm offenbare, wie sie das Feste läßt zu Geist zerrinnen, wie sie das Geisterzeugte fest bewahre".

Die griechische Metropolie zelebrierte zu Ehren von J. A. einen Gedächtnis-Gottesdienst am 9. Mai 2004 in der ChristiHimmelsfahrtskirche in Stuttgart unter Teilnahme von Vertretern der Stuttgarter Universität (Prof. Dr. Ingolf Grieger), des bundesdeutschen Parlamentes (Frau Abgeordnete Ute Kumpf) und der deutsch-griechischen technologischen Industrie (Vorstand der TWT Dimitrios Vartsiotis).

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